Die Titel werden hier in alphabetischer Reihenfolge nach den Namen der Autor*innen aufgeführt.

 

 

 

 

 

Abulhawa, Susan:

Während die Welt schlief

 

Heyne 2012. 431 Seiten


 

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Doron, Lizzie:

Who the Fuck Is Kafka


(Der englische Titel wurde in der

deutschen Übersetzung beibehalten.)

 

dtv 2016. 256 Seiten

 


 

>> Beschreibung folgt <<

 

 

 

Doron, Lizzie:

Sweet Occupation

(Der englische Titel wurde in der

deutschen Übersetzung beibehalten.)

 

dtv 2019. 208 Seiten

 


In diesem Buch, das gewissermaßen auf der Grenze zwischen Reportage und Roman liegt, schreibt die Ich-Erzählerin bzw. Autorin von ihrer Begegnung mit jüdischen und palästinensischen Vertretern der Combatants for Peace. Diese 2006 gegründete Organisation besteht aus Männern und Frauen, die lange Zeit „mit Waffengewalt für ihre Völker“ kämpften und dabei „einander ausschließlich durch das Zielfernrohr ihrer Gewehre“ sahen (S. 201); bis sie die Fragwürdigkeit ihres Tuns erkannten, der Gewalt abschworen und nun gewaltfrei für den Frieden zwischen ihren beiden Völkern kämpfen.

 

Die Autorin verknüpft geschickt drei zeitliche und inhaltliche Ebenen, die einander spiegeln und verstärken: Da ist zum einen die Ebene der Gegenwart; das sind die Jahre 2014/2015. Auf dieser Ebene wird chronologisch die Begegnung mit Vertretern der Combatants for Peace erzählt. Dabei werden – zweite Ebene – immer wieder Meldungen eingefügt von aktuellen Anschlägen seitens der Palästinenser, versehen mit einem kurzen Kommentar der Erzählerin. Dann gibt es drittens die Ebene der Vergangenheit, die bis zum März 1959 zurückreicht. Hier werden Erinnerungen der Erzählerin an ihre Jugend eingeblendet, vor allem an ihre Clique, mit der sie viele Jahre lang in der Schule wie in der Freizeit verbunden war.

 

Im Vordergrund steht also die Begegnung mit palästinensischen und israelischen Vertretern der Combatants for Peace, die mit dem Versprechen, Stoff für ein neues Buch zu liefern, der Erzählerin geradezu aufgedrängt werden. Und sie lässt sich mit sehr gemischten Gefühlen darauf ein, ständig im inneren Streit mit ihren – typischen? – Vorbehalten. So gehen ihr, während sie mit den Palästinensern zusammensitzt, um sich ihre Geschichte anzuhören, immer wieder dieselben bedrängenden Fragen durch den Kopf: „Ich und ein Mörder? Zusammen in einem Café? […] Wen hat er umgebracht? Auch Kinder und Frauen?“ (S. 37)

 

Die erwähnten Meldungen von aktuellen Angriffen verstärken, dramaturgisch geschickt eingesetzt, die Zweifel an dem, was sie da tut, und machen diese Zweifel für die Leserin und den Leser gut nachvollziehbar. Und hier bekommt auch die Ebene der Vergangenheit ihre Funktion: In der Jugend-Clique spielten naturgemäß Fragen nach der Zukunft eine große Rolle und bei den Jungs ging es vor allem immer darum, in welcher Waffengattung sie welche Heldentaten vollbringen würden. Sehr eindrücklich wird hier vor Augen geführt, welch enorme Rolle schon im Denken der jungen Leute die Überzeugung spielte, sich gegen eine feindlich gesinnte Umwelt verteidigen zu müssen.

 

In den folgenden Kriegen konnten sie ihre Vorhaben umsetzen; nur zwei von ihnen haben das überlebt, einer mit schwersten Verbrennungen.

 

Hier wird der ganze Irrsinn der militaristisch aufgeladenen Situation deutlich, die die Erzählerin in dem Satz zusammenfasst: „Töten, sie für immer besiegen, so heißt es bei beiden Völkern.“ (S. 32) Und aus dem Mund von Suliman, ihrem ersten palästinensischen Gesprächspartner: „Ihr bezeichnet uns immer als Tiere und tut, als gäbe es einen großen Unterschied zwischen uns und euch, aber ich sage dir, wir sind same, same. Ihr tötet, wir töten. Es herrscht Krieg, so ist das. We are all equals.“ (S. 47)

 

Den Irrsinn der politischen Situation im Westjordanland, konkret: der Aufteilung in drei Zonen (siehe dazu die Erläuterungen über die politische Verortung Battirs) erfährt die Erzählerin am eigenen Leib, als sie die Einladung zu einer Konferenz der Combatants for Peace in Bait Dschala, südlich von Jerusalem, annimmt (S. 109 ff.). Dort erklärt ihr Mohammed, ihr Gastgeber: „wie mir gesagt wurde, gehören der Speisesaal, die Lobby und der Saal zum Bezirk C, was bedeutet, dass es sich um palästinensisches Gebiet unter Aufsicht der israelischen Armee handelt. Du kannst dich hier mit einer Genehmigung der Armee [die die Erzählerin allerdings nicht hat] also aufhalten […]“ (S. 111 f.) Aber: „Der Garten, den du durch das Fenster siehst, ist Bezirk A. Das bedeutet, dass du nur halb ungesetzlich [wegen der fehlenden Genehmigung] handelst, wenn du im Speisesaal sitzt, aber wenn du in den Hof gehst, ist das schon etwas ganz anderes. Ich rate dir, im Speisesaal zu bleiben, und wenn du mit jemandem sprechen willst, der im Garten ist, dann stell dich ans Fenster. Sprich mit lauter Stimme von hier aus. Kurz gesagt, erlebe ein bisschen die Besatzung […]“ (S. 112).

 

Was die Besatzung für die Palästinenser wirklich bedeutet, erfährt die Erzählerin in den weiteren Gesprächen mit ehemaligen palästinensischen Kämpfern. Sie hört von routinemäßig durchgeführten, überfallartigen Hausdurchsuchungen; von der Zerstörung ganzer Häuser als Strafe für die Aktionen einzelner Familienmitglieder; von Verhaftungen von Kindern und Jugendlichen sowie ihrer Verurteilung beispielsweise für einen nicht tödlichen Messerangriff auf einen Soldaten zu 15 Jahren Haft. Eine Bestätigung, dass soche Vorgehensweisen tatsächlich üblich sind, bekommt sie von Chen, einem israelischen Gesprächspartner, der als Soldat im Westjordanland und im Gazasteifen gedient hat und der ursprünglich „kämpfen wollte, nur kämpfen […] Ich sah keine Alternative […] ich konnte nicht anders“ (S. 87); und der feststellt: „Mir war klar, dass es meine Aufgabe war abzuschrecken, Angst einzujagen, die Zivilisten zu bedrohen, zu zeigen, wer hier das Sagen hatte […]“ (S. 87 f.) Es ist dieselbe Intention, die auch die ehemaligen Soldaten in der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence vielfach bezeugen.

 

Verschiedene Erlebnisse führen alle Gesprächspartner schließlich zu der Einsicht in die Sinnlosigkeit der Gewalt, die immer nur neue Gewalt hervorbringt: „Die Tradition der Heldenhaftigkeit und des Todes hat zu weiteren Gefallenen geführt.“ (S. 195) Und so finden sie bei den Friedenskämpfern zusammen, wo sie gemmeinsam überlegen wollen, „wie wir ein Ende der Besatzung ohne Tote und Verwundete erreichen könnten“ (S. 185). Dafür nehmen sie auf beiden Seiten auch Anfeindungen in Kauf. Als die Erzählerin zuletzt am Vorabend des Gedenktages für die gefallenen israelischen Soldaten eine Zeremonie der Friedenskämpfer besucht, wird sie am Eingang von Landsleuten als „Verräterin“ beschimpft (S. 196). Im Saal hört sie aber dann Mohammed, ihren ersten Gesprächspartner, der sie nach Bait Dschala eingeladen hatte und mit dem sie mittlerweile eine enge Freundschaft verbindet: „Es sind“, sagt er in seiner Eröffnungsrede, „zehn Jahre, dass wir zusammenkommen, Israelis und Palästinenser, um zu gedenken, dass der Krieg keine schicksalhafte Bestimmung ist, dass wir es in der Hand haben, die Situation zu ändern.“ (S. 196)

 


 

In einem Anhang stellt Lizzie Doron die verschiedenen Protagonisten mit kurzen biografischen Notizen vor. Wie gesagt: Das Buch liegt auf der Grenze zwischen Reportage und Roman.

 

 

Ergänzende Informationen:

  • Die Combatants for Peace haben eine Unterstützergruppe in Deutschland, die Friends of Combatants for Peace Germany; siehe https://www.facebook.com/CfPGermany/. Sie bieten u.a. Informationsveranstaltungen in Schulen an, bei denen ein Israeli und ein Palästinenser jeweils gemeinsam auftreten.

 

 

 

Gavron, Assaf:

Auf fremdem Land

 

Luchterhand 2013. 544 Seiten


 

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McCann, Colum:

Apeirogon

 

Rowohlt Verlag 2020. 595 Seiten

 


Der irische Autor Colum McCann ist einer der renommiertesten Schriftsteller der Gegenwart. Für seine Romane und Erzählungen erhielt er zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den National Book Award, den bedeutendsten us-amerikanischen Literarturpreis neben dem Pulitzer-Preis.

 

Das Buch handelt von zwei Männern, dem Israeli Rami Elhanan und dem Palästinenser Bassam Aramin, die beide durch einen gewaltsamen Zwischenfall eine Tochter verloren haben. Ramis Tochter Smadar fiel im Alter von knapp 14 Jahren einem Selbstmordattentat zum Opfer, das junge Palästinenser auf der Ben-Jehuda-Straße mitten in Jerusalem verübten. Zehn Jahre später wurde Bassams zehnjährige Tochter Abir von einem gummiummantelten Geschoss, das ein 18jähriger Grenzsoldat abgeschossen hatte, am Hinterkopf getroffen. Sie war in der Schule und hatte sich in einer Pause in einem gegenüberliegenden Laden Süßigkeiten gekauft; auf dem Weg zurück zum Schulhof passierte es. Sie überlebte noch den – infolge der Straßensperren qualvoll langen – Weg in ein Jerusalemer Krankenhaus, wo sie verstarb.

 

Die Väter lernen sich bei den Combatants for Peace kennen, die sich regelmäßig in Bait Dschala treffen. Sie beschließen, gemeinsam ihre Geschichten zu erzählen, und bereisen zu diesem Zweck Europa und die USA. Ihr Anliegen: sich für Überwindung des Hasses und der sinnlosen Gewalt einzusetzen.

 

Ein Apeirogon ist „eine [geometrische] Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten“ (S. 114). Das Wort kommt „Von griechisch apeiron: Das Unbegrenzte, das Unbestimmte.“ (S. 544) Dass das Bild von der „unendlichen Menge Seiten“ die äußerst komplexe Lage in Israel und der Westbank treffend beschreibt, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Darüber hinaus wird „Apeirogon“ aber auch zum Gestaltungsprinzip des Romans auf seinen verschiedenen Ebenen: hinsichtlich des Inhalts ebenso wie hinsichtlich der Struktur.

 

Das Buch besteht aus zweimal 500 durchnummerierten Abschnitten von sehr unterschiedlicher Länge – von drei Wörtern („Beendet die Besatzung“, S. 277) oder auch nur einem kleinen Bild bis zu mehreren Seiten. In der Mitte des Buches stehen die Erzählungen, die die beiden Väter auf ihren Reisen vortragen; sie haben beide die Nummer 500, danach wird rückwärts nummeriert, zurück wiederum bis zur Nummer 1. Außer in den zentralen Abschnitten wird das facettenreiche Geschehen – die beiden Todesfälle, die Treffen der Combatants for Peace, die Vortragreisen u.a. – in Bruchstücken erzählt, die nicht streng chronologisch angeordnet sind. In Bezug auf die Todesfälle kann man das verstehen als Flashbacks, die unkontrollierbar im Kopf der Hinterbliebenen auftauchen. Für die Leserin und den Leser entsteht so nach und nach ein Gesamtbild, das in den zentralen Abschnitten zusammengefügt und ergänzt wird.

 

Immer wieder werden allerdings auch Begebenheiten und Informationen eingestreut, die mit dem Hauptgeschehen allenfalls assoziativ verbunden sind. Das kann man als erzähltechnische Widerspiegelung einer Welt begreifen, in der Tod, Zerstörung und Ansätze zu deren Überwindung auf vielfältigste Weise vorkommen. Nicht immer erschließt sich indes der Bezug zum Hauptgeschehen; es kommt bisweilen zu Längen. Hier erweist sich das Prinzip „Apeirogon“ als „Das Unbegrenzte, das Unbestimmte“ als etwas problematisch. Sehr überzeugend und zugleich entlarvend wird das Bild von der „unendlichen Menge Seiten“ aber wiederum in der Schilderung, wie verschiedene israelische Medien Abirs Tod immer wieder neu erzählen und deuten: Da wird sie dann etwa als Opfer eines palästinensischen Steinewerfers ausgegeben oder gar selbst als Steinewerferin beschrieben, gegen die sich der junge Grenzsoldat habe verteidigen müssen. Die „unendliche Menge Seiten“, die eine Situation haben kann, wird hier schamlos zur Verschleierung der Tatsachen genutzt, indem Seiten frei hinzuerfunden werden – „alternative Fakten“ hat man das an anderer Stelle genannt.

 

Der Autor nennt das Buch einen „Roman“. Aber ihm liegen tatsächliche Ereignisse zugrunde und die handelnden Figuren sind reale Personen, die mit ihren Klarnamen benannt werden. So ist z.B. die Mutter der getöteten Israelin Smadar, die im Roman fast nur mit ihrem Vornamen Nurit genannt wird, die Tochter eines israelischen Generals, der eine wichtige Rolle im Sechstagekrieg spielte und später zum Friedensaktivisten wurde. Auch die Tochter, Nurit Peled-Elhanan, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem, ist eine Friedensaktivistin, Mitbegründerin der Gruppe „Trauernde Eltern für den Frieden“ (Bereaved Parents for Peace; wörtlich „Eltern, die jemanden verloren haben / hinterbliebene Eltern…“). Als Benjamin Netanjahu, den Nurit seit ihrer Schulzeit kennt, sich nach dem tragischen Tod Smadars bei ihr zu einem Kondolenzbesuch anmeldet, verwehrt sie ihm dies, wie der Roman erzählt. In einem Interview vertritt sie einen bemerkenswerten Standpunkt, der dies erklärt: „Die Attentäter seien nicht schuld an den Morden […] Sie seien selber Opfer. Die Schuld trage Israel. Das Blut der Toten klebe an Israels Händen. An Netanjahus Händen. Auch an ihren eigenen, sagte sie. Sie sei keine Ausnahme, alle trügen eine Mitschuld. Unterdrückung. Tyrannei. Größenwahn.“ (S. 456). Aufschlussreich wiederum der Umgang der Medien damit: „Das Interview wurde im israelischen Fernsehen gesendet. Experten urteilten, sie stehe noch unter Schock.“ (ebenda) Kritische Selbstreflexion und daraus zu ziehende Lehren auf politischer Ebene? Fehlanzeige! Stattdessen nur wieder unterschiedliche Seiten und Sichtweisen, die hier zur Abwiegelung eingesetzt werden – auch so wirkt „Apeirogon“.

 

Übrigens wird auch der junge Grenzsoldat, der die kleine Abir erschossen hat, als Opfer bezeichnet: als „Opfer der Angstindustrie. Unsere Politiker reden mit furchtbarer Überheblichkeit: Sie fordern Tod und Rache. Wir aber rufen ihnen zu: Raus mit euren Waffen aus unseren Träumen. Wir haben genug, sage ich, genug, genug.“ (S. 480)

 

Der das sagt, ist ein Bruder Abirs. Es ist beeindruckend zu sehen, wie es die von Gewalt Betroffenen sind, die Rache ablehnen und die Überwindung der Gewalt fordern. Ernüchternd aber auch, wie wenig Gehör sie in der Gesellschaft finden. Immer wieder erleben die Väter bei ihren Auftritten, dass die Bewertung der Lage in Israel und dem Westjordanland nicht nur sehr unterschiedlich ist (auch hier das Prinzip „Apeirogon“), sondern dass die Standpunkte der Zuhörer*innen oft sehr einseitig und großenteils sehr verhärtet sind. Bei einem Auftritt auf „der Konferenz der amerikanischen Pro-Israel-Lobby AIPAC“ (S. 577 ff.), wo viele den Saal verlassen, als nur das Wort „Besatzung“ fällt, ruft Bassam seinen Zuhörern daher zu: „Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort; dort treffen wir uns.“ (S. 580) Und unter Anspielung auf die Waffen, die ins Land gelangen und deren Nachschub niemals zu versiegen scheint: „Investieren Sie nicht in Blutvergießen, investieren Sie in unseren Frieden.“ (ebenda)